Langsam und vorsichtig setzte er Fuß vor Fuß, immer darauf bedacht, seine ohnehin schon schmerzenden Füße nicht an den spitzen Steinen weiter zu malträtieren. Wie lange würde das noch so gehen? Wann, wann endlich würde er ankommen? Er wischte sich den Schweiß von den rotgebrannten Wangen und zog die inzwischen gebleichte Mütze tiefer ins Gesicht.
Seine Gedanken wanderten in der Ferne, zu dem Ort, von wo er aufgebrochen war. Als es noch anders war, gut war. Als sie noch da war. Täglich war er zur Arbeit gegangen, und abends hatte er sie geküsst und die Kinder geknuddelt. Er hatte gut verdient, Brot brauchten die Leute immer, und ihm machte sein Beruf Freude. Und die Kinder sollten es einmal gut haben, sollten studieren können. Dann war sie krank geworden. Sie ließen weder die Kinder noch ihn zu ihr. Grippe, hieß es, aber er war sich nicht sicher. Die Ärzte, die kamen, trugen Einweganzüge und Mundschutz, und sie nahmen sie mit. Die Kinder weinten. Er weinte. Er sah sie nie wieder.
Von seinen Ersparnissen besorgte er den Kindern eine Fahrkarte zu den Großeltern, in dem fernen Land, wo es sicher war. Sie wollten nicht fahren, er brauchte all seine Überzeugungskraft, um sie loszuschicken. Für ihn reichte das Geld nicht mehr. Deshalb hatte er sich schließlich aus der umzäunten Zone rausgeschlichen, war nachts in Richtung der Berge gelaufen, nur den ungefähren Weg im Kopf. Seit vier Wochen war er nun unterwegs. Selten traf er jemanden, hörte er das Geräusch von Drohnen, versteckte er sich im Unterholz. Sein Handy hatte schon lange kein Strom mehr. Er wusste nicht, ob die Kinder gut angekommen waren. Er wusste nur, er musste sie finden. Er würde sie finden. Langsam und vorsichtig setzte er Fuß vor Fuß.
Beitrag zu den Abc-Etüden bei Christiane. Das ganze Drumherum findet ihr hier, die Worte (Grippe, gebleicht, knuddeln) kamen diesmal von Make A Choice Alice Und wie angekündigt, habe ich nicht eine einzige bisher dazu veröffentlichte Etüde gelesen, was ich jetzt erstmal nachholen werde!
Hu, das klingt übel postapokalyptisch. Eine Horrorvorstellung, bei so einem Desaster, die Kinder aus den Augen zu verlieren. Bedrückend gut geschrieben.
Alice
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Mir selber macht jede Form von Eingesperrtsein ungeheuere Angst, und zur Zeit bekommen wir im Büro viel Post aus China, die dort aufgrund Corona zu HomeOffice verdonnert wurden. Zusammen mit der Thematik der Geflüchteten (die ja tatsächlich ihre nächste Angehörigen aus den Augen verlieren) wurde daraus wohl diese Geschichte…
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Ja, das kann ich sogar sehr gut nachvollziehen.
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Sehr gelungen!
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Danke, wenn auch so gar nicht positiv 😉
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Bei den Wortvorgaben gehört das Drama dazu – es kommt nur auf die Darstellung an, ob ich es im positiven Sinne als gelungen empfinde, wie hier, oder nur als erfüllte Aufgabe sehe.
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Naja, deine zauberhafte Kuscheltier-Geschichte zeigt ja, dass es auch noch ganz andere Färbungen gibt. Trotzdem danke ich dir :-))
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🙂
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Boah, wie viele dystopische Szenarien die „Grippe“ den Etüden beschert, echt interessant. Auch deins ist sehr beklemmend und macht unterschwellig Angst. Toll umgesetzt.
Liebe Grüße
Christiane 😁🍲🍷👍
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