Der Handschuh – Eine abc-Etüde

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Sie war schnell gelaufen, deshalb war ihr warm, als sie auf dem Friedhof ankam, und sie hatte die Handschuhe ausgezogen und achtlos in ihre Manteltasche gesteckt. Sie musste nachdenken, über das Angebot. Er hatte an ihrer Tür geklingelt und gefragt, ohne Einleitung: Fliegst du mit mir in Urlaub?

Wie kam er auf so eine Idee? Sie hatten sich bis jetzt immer nur im Hausflur gesprochen, sie waren schließlich Nachbarn. Sie brachten gemeinsam den Müll raus oder leerten den Briefkasten, holten die Zeitung rein oder brachten Einkäufe hoch. Was man eben so tut in einem Hausflur. Und wechselten ein paar Worte. Seit Mutters Tod sprach sie nicht mehr mit vielen Menschen, aber, ja, sie freute sich immer, wenn sie ihn sah. Er schien ebenfalls alleine zu leben, gefragt hatte sie danach nicht.

Und nun das. Einfach mit der Tür in Haus war er gefallen. Sonnenuntergang am Meer ist doof alleine, hatte er gesagt. Und dass es prima Angebote gäbe um diese Jahreszeit. Komm doch mal rüber heute Abend, auf ein Glas, hatte er gesagt, und sie hatte da in der Tür gestanden wie eine Salzsäule, nicht gewusst, was sie tun oder sagen sollte.

Komm um 7, hatte er vorgeschlagen, und sie hatte gemurmelt, dass sie rein müsse, Nudeln stünden auf dem Herd, und dann müsse sie auch noch weg. Vielleicht schaffe ich es ja, hatte sie noch schnell hinterhergeschoben, als sie sein enttäuschtes Gesicht sah, und doch schnell die Tür geschlossen.

Jetzt lief sie hier über den Friedhof, auf der Suche nach Antworten. Und um die Zeit totzuschlagen. Alles, was sie fand, war schließlich einer ihrer Handschuhe. Er war dunkel und leblos, und sie ging, nach kurzem Zögern, einfach vorbei.

 

 


Mein Beitrag zu den abc-Etüden, wie immer liebevoll betreut von und nachzulesen bei Christiane.

Die Wörter kamen diesmal von Corly und ihrem Blog „Corlys Lesewelt„. Ihre Begriffe lauteten:

Sonnenuntergang
warm
fliegen

8 Gedanken zu “Der Handschuh – Eine abc-Etüde

  1. Die ganze Situation wirkt so schattig und kühl wie so ein Altbau-Treppenhaus, das ich mir beim Lesen vorstelle. Dieser liegengelassene Handschuh gibt Rätsel auf, wie es weitergehen könnte. Auf mich wirkt es wie eine Art, dort einen Anker zu hinterlassen.

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  2. Großartig. Gemeinsam verreisen, um einander kennenzulernen, ist eigentlich eine tolle Idee. Und es muss ja gar nicht gleich Doppelzimmer und das volle Programm sein. Wie Sabine: Ich wünsche ihr, dass sie sich traut. Wenigstens erst mal am Abend zum Nachbarn.
    Spannende Idee.
    Liebe Grüße
    Christiane 😁🍷👍

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    1. Das hört sich nach Erfahrung an 😊
      Meine Erfahrung hat gezeigt, dass ich mich für jeden einzelnen Schritt immer wieder neu entscheiden muss und es erst nach vielen Schritten leichter wird. Ich drücke ihr auch die Daumen 😉

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