Das Bewerbungsgespräch – abc-Etüde

Sie verfluchte sich. Was hatte sie sich nur dabei gedacht?

Sie war freundlich begrüßt worden von dem netten Herrn am Empfang, der sie in das Besprechungszimmer geführt hatte mit der Bemerkung, es dauere leider noch ein paar Minuten, sie möge sich bitte einfach beim Kaffee oder den Kaltgetränken bedienen. Als ob sie irgendetwas herunterbekommen würde.

Schon als sie vor dem Gebäude gestanden hatte, war sie sich so mickrig vorgekommen: vergoldete Klingelschilder, eine riesige Freitreppe mit rotem Teppich, ein vollverspiegelter Aufzug, der ihr ihre eigene unscheinbare Erscheinung wieder und wieder vor Augen führte. Wie hatte ihre Mutter immer gesagt? Klein, schmierig und brav, so sind wir und so bleiben wir.

Sie versuchte, diese destruktiven Gedanken wegzuschieben und sich auf das bevorstehende Gespräch vorzubereiten. Sie wollte sich beweisen, dass diese Einstellung nicht die ihre ist.

Es war so warm ihm Raum, dass sie sich schließlich doch ein Glas Wasser einschenkte und gierig trank. Danach sickerte ihr der Schweiß innnen an den Oberarmen entlang. Auch das noch, jetzt konnte sie nicht einmal mehr ihren Blazer ausziehen! „Still jetzt, entspann dich, du bist genau so in Ordnung wie du bist“ kommandierte sie sich selbst. „Und denke an den letzten Skiurlaub, wie kalt es dort war.“ Sie hoffte, dann würde der Schweiß versiegen. Feuchte Hände waren das Letzte, was sie jetzt wollte. „Schnee, eisiger Wind, kalte Füße“ murmelte sie vor sich hin.

In diesem Moment hörte sie draußen Stimmen, dann öffnete sich die Tür. „Frau Schmieder, wie schön, dass Sie sich für uns interessieren, herzlich willkommen! Es tut mir leid, dass Sie warten mussten.“ „Ach, das macht gar nichts, ich habe mich gut unterhalten.“ Sollte ihr Gegenüber irritiert gewesen sein ob dieser Bemerkung, so überspielte er es vortrefflich. Er war entwaffnend natürlich und schon bald waren sie sich einig. Und sie hatte einen neuen Job.


 

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10 Gedanken zu “Das Bewerbungsgespräch – abc-Etüde

  1. Hach, schön, liebe Hummel,
    eine ganz andere Verwendung des Wortes Skiurlaub. Darauf muss man auch erst Mal kommen.
    Gefällt mir gut, deine Geschichte – und diesen destruktiven „Mama-Satz“ darf die junge Frau loslassen üben.
    Hab es fein
    Judith

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  2. „Klein, schmierig und brav, so sind wir und so bleiben wir.“ Das ist ein echter Granatensatz, an Hinterhältigkeit für das eigene Selbstbewusstsein kaum zu überbieten! Ich bin nicht sicher, ob jemand, der so erzogen worden ist, das so einfach hinter sich lassen kann – aber wünschen würde ich es jeder*jedem.
    Danke, dass du diesmal nicht in Skiurlaub gefahren bist 😀
    Liebe abendlich Grüße
    Christiane 😉

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    1. Stimmt, das holt einen zu den unmöglichsten Situationen wieder ein und ist sicher nicht einfach hinter sich zu lassen. Aber wer hat schon gesagt, dass es einfach wird? 🙂
      Liebe Grüße zurück vom heimischen Sofa,
      Andrea

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  3. Pingback: Schreibeinladung für die Textwochen 04.05.20 | Wortspende von OnlyBatsCanHang | Irgendwas ist immer

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