Hinten rechts

Eines Tages, es war wieder mal kalt und grau, reichte es dem Winterreifen!

Er hatte genug von der Gesellschaft seiner Mitreifen, die prall gefüllt klaglos tagaus tagein das Auto über ihnen trugen und bewegten, als sei das nichts. Er wollte Lob, er wollte Anerkennung. Und gab es die hier, als Vasallen eines ignoranten Autofahrers, der jeden Morgen in aller Frühe verschlafen in das Auto stolperte und sodann das Radio so laut machte, dass man es trotz Motorengeräusch noch an der Hinterachse hören konnte? Nein, er hatte noch nie ein Wort des Dankes von ihm gehört. Und auch VL, VR und HL blieben stumm.

Manchmal, hatte er eifersüchtig bemerkt, da sprach der Autofahrer mit der Karosserie. Er säuselte und bettelte „Komm schon, Liebes, mach keine Mucken, ich brauch dich doch!“ Und später sogar noch: „Danke, so ist gut, nur weiter so, meine Kleine!“ Ja, schon klar, mit Mädels ging man besser um. Von Zeit zu Zeit streichelte er sogar das Lenkrad! Aber so ein Winterreifen, der stand ja nur in Regen und Schnee, fuhr auf eisigen Fahrbahnen und sorgte stets für guten Gripp. Und was bekam er zu hören? Nichts! Nicht ein Wort! Undankbares Menschenpack. Und geduldige Idioten, seine drei Mitstreiter, zu nichts zu gebrauchen.

Seine anderen Kollegen, die Sommerreifen, sie berichteten von Ausflügen zu grünen Wiesen, an Seen, in die Berge. In den Zeiten ihrer kurzen Begegnungen, wenn die Winterreifen ab- und die Sommerreifen aufgezogen wurden, schnatterten sie aufgeregt und erwartungsvoll.

Ach, er wollte auch viel lieber den Sommer erleben, anstatt in einer dunklen Halle in einer Tüte verpackt auf die nächste undankbare Saison zu warten. Er musste sich aus Staub machen, je früher, desto besser… doch wie sollte er das nur anstellen? Lange dachte er darüber nach, während er durch die Stadt rollte. Und schließlich hatte er die Gedanken so oft hin und her gewendet, dass ihm eine Idee kam. Er würde sich einfach ein Loch in den Bauch ärgern! Damit käme er sicher aufs Abstellgleis. Er würde abmontiert, und während noch das kleine, allzeit bereite Ersatzrad aus dem Kofferraum seinen großen Auftritt hätte, würde er in einem unbeobachteten Augenblick fliehen können. Er musste nur noch auf die richtige Gelegenheit warten, so dass er ein bisschen Schwung bekäme, wenn er losrollte… aber dann… abgefahren!


 

Mit freundlicher Unterstützung von  lostinruhr und als weiterer Beitrag zu den abc.etüden 

Die Wörter waren Winterreifen, eifersüchtig und stolpern.

Nachtrag für alle Etüdenmitschreiber und -begeisterte, zerknirscht:

Christiane (s. Kommentare) weist völlig zurecht darauf hin, dass es viiiieeel mehr Worte geworden sind, als es bei den abc.etüden Regel ist (nämlich maximal 300 Worte). Es ist mir ehrlich gar nicht aufgefallen, aber ich lass das jetzt mal einfach so. Soll ja auch Spass machen, und ich hab keine Lust, nur wegen dieser Regel die Geschichte jetzt nochmal zu überarbeiten. Aber zukünftig werde ich drauf achtgeben, liebe Christiane, ob eine Geschichte sich überhaupt für die Etüden qualifiziert. Versprochen.

 

17 Gedanken zu “Hinten rechts

  1. Das ist klasse. Nachdem wir alle unsere Morde und Sonstiges spinnen, kümmerst du dich um die Gefühle … eines Winterreifens. Sehr gelungen, er hat mir richtig leidgetan! 😀
    Aber, Entschuldigung: 300 Wörter, nicht 375! Und ja, ich habe den Nachsatz ganz sicher nicht mitgezählt!
    Liebe Grüße
    Christiane

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      1. Doch. Du bist nicht die Erste, der das passiert, und ganz sicher nicht die Letzte. Tu mir einfach den Gefallen und check die Länge, bevor du die Geschichten veröffentlichst, ja? Ich hasse es, mit der Fliegenklatsche hinter Leuten herzurennen, die genau so schon „alle groß“ sind, wie ich es bin. Mir fallen auch nicht immer alle auf …
        😒

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  2. O, ich hatte auch meinen Spaß! The world according to Winterreifen HR. Ob sein Ausbruchsversuch gelungener sein wird als die zahlreichen der Insassen von Alcatraz? Wir wollen es hoffen. Dann wird er vielleicht doch noch ein sommerliches Schicksal haben, vielleicht als Rundbefestigung eines Beetes für Geranien?

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  3. Oh, oh… da werd ich nachher mal gleich zu meinen Reifen was nettes sagen gehen, nicht dass da auch einer Fluchtgedanken hat! Aber meine Winterreifen könnten was erzählen! Sie sind nämlich im Sommer (ab September mit mir) gefahren, weil sich niemand drum gekümmert hat und ich habs gar nicht gesehen… Dienstwagen eben. Deshalb hab ich seit 2 Wochen vorne zwei neue, die muss ich ja mal anständig begrüßen! Gut dass du mich erinnert hast… Reifen sind ja auch nur Menschen….oder so…. Viele Grüße Miki

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  4. Hey,
    eine tolle Idee. Da machen die paar Wörter mehr auch nichts. 😉
    Könnte übrigens die Vorgeschichte zu Rubber sein – einem Horrorfilm, in dem ein Reifen der Hauptakteur ist.
    Grüße, Katharina.

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  5. Pingback: Schreibeinladung für die Textwochen 08.09.19 | Wortspende von wortgeflumselkritzelkram | Irgendwas ist immer

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