Im Sommer reift das Obst, im Winter reifen die Gedanken, dachte er, während er mit klammen Fingern die Eingangstür öffnete.
War er nicht Derjenige, der immer gepredigt hatte: „Halte dein Auto in Schuss, mache regelmäßige Inspektionen, hast du Frostschutz in der Waschanlage?“ Und nun erwischte es ausrechnet ihn, den ständigen Mahner: Ohne Winterreifen war er auf vereister Fahrbahn aus der Kurve getragen worden, hinaus aufs Feld zwischen eine kleine Pflanzung von Obstbäumen, die trüb im kalten Licht standen.
Als er seinen Wagen umrundete auf der Suche nach Schäden, die aber – völlig unerwartet – gar nicht vorhanden waren, traf es ihn wie ein Keulenschlag: Das ist dein Leben. Immer mit angezogener Handbremse, immer ordentlich, immer korrekt. Das gerade, das war ein bisschen wie Fliegen gewesen. Das war Abenteuer. Dieses Gefühl, völlig die Kontrolle zu verlieren, war berauschend. Natürlich, es war auch leichtsinnig, er hatte nicht auf seine Geschwindigkeit geachtet. Denn er mochte den Winter, schon als Junge mochte er das Glitschen auf dem Eis, sah gerne die Leute stolpern und lustige Gesichter dabei machen. Zugegeben hätte er das nie. Das gehörte sich nicht! Schadenfreude, so hatte er früh gelernt, war eine höchst ungehörige Eigenschaft. Manchmal war er auf seine Mitschüler eifersüchtig gewesen, wenn sie in lärmenden Gruppen zum Eislaufen gingen, ihr Lachen drang bis ins Gutshaus, wo er mit seiner herrischen Mutter wohnte und die Nachmittage an ihrer Seite verbrachte, ihr vorlas oder ihre kranken Muskeln massierte.
Er behielt den Mantel an, während er hektisch ein paar Kleidungsstücke und Toilettenartikel in seinen Koffer warf. Wo war nur dieser Prospekt? Ah, da. Seinem Arbeitgeber würde er später Bescheid geben, wenn es kein Zurück mehr gab. Er musste sich selbst überlisten, sonst würde er nie seine Träume leben. Kanada. Schlittenhunderennen. Als Erstes würde er zum Flughafen fahren. Alles Andere würde sich zeigen.
Geschrieben für die Etüden, genau 300 Worte. Nähere Infos hier
Der erste Satz gefällt mir ganz besonders. 🙂
LikeGefällt 1 Person
🙂
LikeLike
Gefällt mir sehr: einerseits das Ausbrechen aus dem Alltag und andererseits die Sprache.
im Winter reifen die Gedanken ❤ <3. Auf den Gedanken Wörter zu zerlegen, bin ich noch gar nicht gekommen, aber ich werde ihn sicher ausprobieren. herzliche Grüße
LikeGefällt 2 Personen
Wehe! Christiane schimpft! 😉
(Klar, mach ruhig, solange du das Wort nochmal am Stück bringst. Ansonsten siehe Kleingedrucktes, Punkt 6. Ich wusste schon, warum ich das aufgenommen habe …)
Klugscheißergrüße
Christiane 😉
LikeGefällt 2 Personen
Huch ! Ich habe das Kleingedruckte übersehen 🙂
LikeGefällt 1 Person
Du warst sogar die Erste, die dabei kommentiert hat! 🙂
(Wehret den Anfängen!)
LikeGefällt 1 Person
🙂 🙂
LikeGefällt 1 Person
Was mich an Geschichten immer so beeindruckt, weil ich das irgendwie nie so hinbekomme: Den Figuren fällt irgendwas Wichtiges auf, und sie rennen los und machen es besser, bringen jemanden um, verändern ihr Leben radikal … Ich könnte das nie, jedenfalls nicht so, und beneide deinen Protagonisten fast ein bisschen …
Sehr schön, gefällt mir gut!
Liebe Grüße
Christiane
LikeGefällt 1 Person
Sehr schön geschrieben!
Liebe Grüße von Hanne
LikeLike
So eine schöne Exposition und du hältst das dann gut und konsequent bis zum Ende durch. Das, was dein Protagonist macht, müssten mehr Leute real machen, dann wäre die Welt vielleicht ein besserer Ort
LikeGefällt 3 Personen
Ein Bruch mit Gewohnheiten, Überkommenem, Regeln ist oftmals sehr hilfreich. You have to brake the rules, (heißt es bei den Unternehmensberatern) und du wirst Nie-Geahntes erleben!
LikeGefällt 3 Personen
Gefällt mir sehr deine Geschichte … ich fliege mit ihm mit vor allem wegen der Schlittenhunderennen. Und dein erster Satz gefällt mir besonders.
Schön dass Du mitgeschrieben hast!
Herzlich. Petra
LikeLike
Pingback: Schreibeinladung für die Textwochen 08.09.19 | Wortspende von wortgeflumselkritzelkram | Irgendwas ist immer